Was nützt es, ein Kind zu sein, wenn Krieg ist.
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Buchbesprechung: "Kleine Hände im Großen Krieg" von Yury und Sonya Winterberg; Aufbau-Verlag 2014
In diesem Jahr jährt sich der Beginn des Ersten Weltkrieges zum einhundertsten Mal. Das war ein Anlass, diese Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts einmal aus anderen Augen zu betrachten. Aus den Augen der Kinder. Yury und Sonya Winterberg haben gut zwei Dutzend Tagebücher von Kindern ausgewertet, die während des großen Krieges zwischen acht und siebzehn Jahre alt waren.
Was zunächst wie ein Versuch aussehen könnte, der Armada an Büchern über diesen weltweiten Konflikt ein weiteres hinzuzufügen und dabei, quasi als Unterscheidungsmerkmal, Quellen heranzuziehen, die bisher nicht oder kaum berücksichtigt wurden und darüber hinaus auf den ersten Blick auch relativ vernachlässigbar erscheinen (was können Kinder schon großartig zu dieser Betrachtung beisteuern?), entpuppt sich schon nach wenigen Seiten als absolut berechtigtes und überaus interessantes Unterfangen. Das liegt an drei Umständen, die eine Betrachtung des Ersten Weltkrieges aus Kindersicht nicht nur berechtigt, sondern sogar überfällig machen.
Da ist zum Ersten die Tatsache, dass es sich um die erste Generation der Menschheitsgeschichte handelt, die in den im Kriege beteiligten Ländern nahezu flächendeckend alphabetisiert war. Keine andere Epoche, kein anderes Ereignis zuvor, weist diese Fülle an schriftlichen Zeitzeugnissen auf. Zum ersten Mal überhaupt gibt es die Möglichkeit, in die Gedanken und Herzen der kindlichen Sicht auf die Dinge zu schauen.
Zum Zweiten sind diese Tagebücher nicht zufällig entstanden. Die Kinder des Ersten Weltkrieges wurden, Nationen übergreifend, gezielt und gewollt sowohl von ihren Eltern als auch von den Schulen aufgefordert und ermuntert, ein eigenes Kriegstagebuch zu führen, und sie kamen dieser Aufforderung mit Begeisterung nach und benannten ihr Tagebuch auch so: Mein Kriegstagebuch.
Zum Dritten markiert der Erste Weltkrieg gleichzeitig den Beginn des Zeitalters der Massenkommunikation. Sowohl Abermillionen an Briefen zwischen Ehefrauen und Kindern an ihre Männer und Väter an der Front, aber auch die Verfügbarkeit umfassender (wenn auch zensierter) Informationen aus den sich etablierenden Massenmedien, erlaubte es den kindlichen Verfassern dieser Tagebücher, ihr eigenes Erleben in Beziehung zum Großen und Ganzen zu setzen, ja sogar überraschend erwachsen zu reflektieren.
Wegen all dieser Gründe handelt es sich hier um einen Gegenstand, dessen Betrachtung höchst interessant ist und überfällig war und deren Aufarbeitung den Winterbergs außerordentlich gut gelungen ist. Denn herausgekommen ist kein trockenes Geschichtsbuch, sondern eine äußerst spannende, bewegende und lebendige Erzählung. Das Buch ist wie ein episodenhafter Roman geschrieben, nur dass man als Leser die Geschehnisse ständig in dem Bewusstsein verfolgt, dass sie echt sind. Dass es keine Fiktion, sondern historische Realität ist. Dass sich dieses Buch wie eine belletristische Erzählung liest, liegt daran, dass die Winterbergs nur selten Passagen aus den herangezogenen Tagebüchern wörtlich zitieren. Vielmehr haben sie sie als Quelle genutzt, um die Geschichten dieser Kinder zu erzählen, in einem Stil, als handele es sich eben um die Protagonisten eines Romans. Der Leser begleitet auf diese Weise, unterhaltsam, spannend, bewegend und lebendig zugleich, Kinder aus fast allen Regionen, in denen dieser verheerende Krieg gewütet hat.
Da ist die kleine russische Kosackentochter Marina, die ihrem Vater, einem Oberst, an die Front folgen will und so selbst als Kind (und Mädchen obendrein) zur Soldatin wird, die über drei Jahre gekämpft hat. Da ist der französische Junge aus Sedan, der jahrelang unter der deutschen Besatzungsmacht leben und die Deportation seines Vaters erleben muss. Wir begleiten eine jüdische Familie aus Galizien auf der Flucht vor antisemitischen russischen Verbänden. Wir miterleben den Alltag und die Gefühle einiger deutscher Jungen und Mädchen, nehmen Anteil an den Erlebnissen eines serbischen Jungen, der als einziger Überlebender eines Massakers zwischen Österreich, Serbien und Albanien auf der Flucht ist. Wir besuchen englische Kinder in London und erleben mit ihnen die ersten Bombardements deutscher Zeppeline. Auch begleiten wir einen australischen Jugendlichen, der sein Alter hochschönt, um freiwillig in den Krieg zu ziehen. Und er ist nicht der Einzige.
Da es in England keine Wehrpflicht gibt, ist die englische Armee auf Freiwillige angewiesen. Und die Offiziere der Musterung sind angewiesen, nicht auf die Vorlage von Dokumenten zu bestehen, sondern den Altersangaben der Bewerber einfach zu glauben. So ziehen für England 250.000 Kinder in die Schützengräben, von denen der Leser auch das eine oder andere begleitet, teilweise bis in den Tod.
Dazu ist es dem Autorenpaar hervorragend gelungen, den Leser die verschiedenen Phasen des Krieges fühlen zu lassen. Zu Beginn die allgemeine Euphorie in allen Ländern, bei nahezu allen Kindern, der Hurrapatriotismus, die damit einhergehende Veränderung der in der Schule vermittelten Inhalte, die Ausrichtung der Spielzeugindustrie auf die Kriegs- und Uniformverehrung und so weiter. Doch dann kommen 1915 die ersten Schrecken. Tote Väter. Vertreibung, Bombenkrieg auf zivile Städte hüben wie drüben, Einkesselung, Belagerung, Besatzung. Als die Bevölkerung Ende 1915 beginnt, kriegsmüde zu werden, die Nahrung wird rationalisiert, Frauen müssen Männerberufe übernehmen, Lehrer werden immer seltener, die Schulklassen damit größer, gelingt den Autoren es, den Leser das spüren zu lassen, weil die Zeitspanne um 1915/16 in dem Buch kein Ende zu nehmen scheint. Man fragt sich unwillkürlich, wann denn endlich 1916/17 anbricht, ja überhaupt, wann es dem Ende zugeht. Und genauso muss es sich angefühlt haben. Ein Schrecken ohne Ende. Allein schon das nächste Jahr erscheint unsichtbar hinter dem Horizont der eigenen Wahrnehmungsfähigkeit verborgen. Respekt, Yury und Sonya. Das ist Euch großartig gelungen.
Dann kommen die letzten beiden Jahre. Den Verantwortlichen will kein Frieden über diplomatische Initiativen gelingen. Immer schrecklichere Waffen, Riesenkanonen, Giftgas und nie dagewesene Sprengungen (an der italienisch-österreichischen Front verschwinden ganze Berge in Sekunden) halten für die Versuche her, den Frieden ausschließlich durch die Vernichtung des Gegners zu erzwingen. Hunger und Not, der Verfall der Moral, allerorten auf beiden Seiten der Front. Keine Begeisterung mehr. Nur noch unüberbrückbarer Hass und der innige Wunsch, es solle endlich aufhören. Aber es hört nicht auf. Den Verfassern gelingt es hervorragend, den Leser diesen emotionalen Bogen spürbar erleben zu lassen von Euphorie, Sportsgeist, über Müdigkeit bis hin zu Hass, Resignation und Trauma. Zwischen den einzelnen Episoden flechten sie die historischen und militärischen Zusammenhänge auf spannende Weise mit ein, so dass man bei aller lokalen Betrachtung aus Kinderaugen nie das Große und Ganze aus den eigenen verliert.
Während in der Mitte des Buches viele Fotografien zu finden sind, die den einzelnen Figuren, mit denen der Leser lebt und leidet, ein Gesicht geben, erfahren wir am Ende auch den weiteren Werdegang der Überlebenden. Einige der Kinder werden später berühmt. Darunter beispielsweise der kleine Alfred in London, der von seiner Umgebung nicht Alfred genannt werden will, sondern auf seinen Spitznamen Hitch besteht, weil er mit Nachnamen Hitchcock heißt. Desweiteren Simone de Beauvoir, Marlene Dietrich, Anaiïs Nin oder Heinz Erhardt aus Riga. Fazit: Nachdem ich bereits von Sonya Winterbergs Wir sind die Wolfskinder echt begeistert war, bin ich es nun auch von Kleine Hände im großen Krieg. Es ist ein wirklich besonderes und mehr als lohnendes Leseerlebnis. Top-Empfehlung.
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