Eine differenzierte Zeitreise
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Diese Woche habe ich einen spannenden Krimi gelesen, der gerade frisch im Droemer-Knaur Verlag erschienen ist: GERMANIA. Er spielt in Berlin (das Hitler in Germania umbenennen will) und zwar im Mai und Juni 1944. Geschrieben wurde er von Harald Gilbers, der als Theaterregisseur in Erding bei München lebt. Es ist sein Debütroman und soviel sei vorweg genommen: Er hat einen sehr spannenden Krimi hingelegt, der sowohl sprachlich kunst- und genussvoll inszeniert als auch hervorragend historisch untermauert ist.
In der zerbombten Reichshauptstadt macht ein Serienmörder Jagd auf Frauen und legt die verstümmelten Leichen vor Kriegerdenkmälern ab. Alle Opfer hatten eine Verbindung zur NSDAP. Doch laut einem Bekennerschreiben ist der Täter kein Regimegegner, sondern ein linientreuer Nazi. Der jüdische Kommissar Richard Oppenheimer, einst erfolgreichster Ermittler der Kripo Berlin, wird von der SS reaktiviert. Oppenheimer weiß, dass sein Leben am seidenen Faden hängt. Erst recht dann, wenn er den Fall lösen sollte. Fieberhaft sucht er nach einem Ausweg.
Die Spannung, die alleine schon in diesem ungewöhnlichen Thema bzw. Konstrukt steckt, findet sich fast durchgehend im Roman wieder. Anfangs ist man jedoch etwas erstaunt. Der ca. 50jährige Oppenheimer lebt mit seiner Frau und anderen jüdischen Familien in einem sogenannten Judenhaus, sie sind bei den Behörden registriert und bekannt, Oppenheimer bewegt sich relativ frei in Berlin und geht einer regelmäßigen (Zwangs-)Arbeit als Maschinenputzer in einer Fabrik nach. Obwohl Mitte 1944 ganz Europa nach den letzten noch lebenden Juden durchkämmt wird, lebt der Protagonist mit seiner Frau relativ unbehelligt mitten in Berlin. Sie leiden zwar unter Diskriminierung, unter willkürlichen Hausdurchsuchungen, einer strengeren Rationierung von Lebensmitteln und sonstigen Gütern, arbeiten zwangsverpflichtet und gelegentlich wird auch eine Nachbarsfamilie von der Gestapo abgeholt, aber insgesamt betrachtet scheint der Druck nicht so hoch, als dass man sich ernsthaft sorgen oder etwas unternehmen müsste. Das überrascht zunächst einmal.
Bei näherer Betrachtung der historischen Tatsachen jedoch stellt sich heraus, dass es 1944 eine derartige jüdische Lebenswirklichkeit in Berlin tatsächlich gegeben hat. Der Autor hat penibel und umfangreich recherchiert. Was diese Lebenswirklichkeit einiger sehr weniger Juden angeht, bezieht er sich auf mehrere überlieferte Tagebücher jener Zeit, allen voran denen von Victor Klemperer. Realhistorisch handelte es sich um ca. 1.700 Juden (von ehemals 153.000 Berliner Juden), die in gewisser Weise privilegiert sind, vorwiegend weil sie mit einem "arischen" Partner verheiratet sind. So auch unser Held Oppenheimer, dessen Frau Lisa "Arierin" ist. Diese Wenigen stehen unter einem gewissen Sonderstatus durch ihre Ehe (der jedoch 1945 auch nicht mehr maßgeblich war).
So erleben wir in GERMANIA also die alltägliche Lebenswirklichkeit eines relativ unbehelligt, wenn auch vom gesellschaftlichen Leben ausgeschlossen lebenden "arisch versippten" Juden. Und dieser Richard Oppenheimer, einst ein erfolgreicher, inzwischen vom Dienst suspendierter Mordkommissar wird nun von einem SS-Hauptsturmführer angeheuert, ihm bei der Aufklärung einer geheimnisvollen Mordserie zu helfen, mit der dieser SS-Mann überfordert ist. Er ist kein Kriminalist sondern Soldat. Er wurde von der Ostfront abkommandiert und durch die Intrigen eines Konkurrenten mit der Befassung solcher Kriminalfälle betraut - eine (gewollt arrangierte) Karrieresackgasse. Aber aus dieser hofft er wieder herauszukommen, wenn er diese, den üblichen Rahmen sprengende Mordserie aufklärt.
Und so arbeiten ein SS-Hauptsturmführer und ein Jude gemeinsam als Team mitten im von ständigen Bombenangriffen heimgesuchten Zentrum der noch existierenden nationalsozialistischen Macht. Das ist nicht nur ein äußerst interessantes Konzept für einen spannenden Krimi sondern es glänzt auch noch mit einem sehr faktenorientiertem Realismus, der einen manchmal überrascht.
Gilbers webt viele ungewöhnliche und überraschende Ergebnisse seiner umfangreichen Recherchen geschickt in die Geschichte ein. Dazu kommt die Tatsache, dass auch alle die Handlung begleitenden Geschehnisse real sind. Wird das Ermittlungsteam in einer Szene von einem britischen Bomberangriff überrascht, so hat es diesen damals an jenem Tag zu jener Stunde auch tasächlich gegeben. Gilbers historische Treue geht in jedes Detail, bis hin zum Wetter. Das untermauerte den Lesegenuss noch über die eigentliche Story hinaus, da ich als Leser ständig das Gefühl hatte, das Berlin der Frühsommertage 1944 selbst zu erleben statt es nur zu lesen. Dieses Gefühl des Erlebens verstärkt Gilbers durch seine Fähigkeit, seine Sprache mit der jeweiligen Szene zu modifizieren. Er (be)schreibt eine Szene mit Jugendlichen anders als eine mit Parteifunktionären. Seine Art zu formulieren, bestimmte Wörter einzubinden, Sprachtempo und -klang passten sich stets der Szene an. Das ist wirklich eine Kunst, und sie führt eben dazu, dass man eine Szene fühlen kann und nicht nur lesen und verstehen. Gilbers Schreibkunst war ein Genuss.
Etwas getrübt wurde dieser Genuss für meinen Geschmack von der meines Erachtens nicht ganz konsequent durchdachten Motivation oder Handlungsweise einiger Akteure. Ich kann hier nicht näher darauf eingehen, weil ich sonst vom Inhalt zu viel verraten würde. Aber weil es darunter einen zentral wichtigen Punkt gab, ergab das für mich leider einen Minuspunkt bei ansonsten sehr vielen Pluspunkten. Der wichtigste Pluspunkt: Dieser Debütroman von Harald Gilbers zwang durchgehend zum Weiterlesen. Er fesselte mich nicht nur, er bot mir darüber hinaus ein sonst ungewöhnlich realistisches Zeitreiseerlebnis und -wie gesagt- den Genuss einer kunstvollen Sprache. Meine Empfehlung: Unbedingt lesen.
Hier kann man es bestellen: GERMANIA von Harald Gilbers, Droemer-Knauer, 2013
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